Die Dritte amerikanische Armee stand am 5. April 1945 in Gotha, 40 Kilometer von dem faschistischen Konzentrationslager Buchenwald entfernt. Innerhalb von 12 Tagen legte sie 250 Kilometer in östlicher Richtung zurück. Ihr Kommandant, General Patton, nannte den Vormarsch seiner Armee einen Spaziergang. Die Rote Armee kämpfte in diesen Tagen gegen heftigen Widerstand der Wehrmacht und der SS auf der Linie Stettin-Küstrin-Frankfurt (Oder)-Görlitz. 60 Kilometer trennten sie von Berlin, aber weit mehr von Buchenwald.
Das illegale Internationale Lagerkomitee (ILK), dem 11 der großen nationalen Gruppen im Lager unter Führung der Kommunisten angeschlossen waren, durfte annehmen, daß innerhalb der nächsten zwei bis drei Tage USA-Truppen vor dem Tor des KZ Buchenwald stehen würden. Sie täuschten sich. In Gotha blieben die USA-Kampfverbände stehen. Der gut funktionierende Nachrichtendienst des ILK, das Abhören der Radio-Nachrichten Tag und Nacht meldete keine Kampfhandlungen im Raume Gotha.
Panik bei der SS
Das zeigte sich sofort in den Maßnahmen der SS-Führung, alle Häftlinge aus. dem Lager zu evakuieren. Ein Hitlerbefehl lautete, keinen Häftling in die Hände des Feindes fallen zu lassen. Die SS befahl am 4. April alle jüdischen Häftlinge auf den Appellplatz, um sie sofort per Fuß und offenen Eisenbahnwaggons in unbekannte Richtung zu evakuieren. Das ILK beschloß, sich schützend vor seine jüdischen Kameraden zu stellen, und empfahl ihnen, den Judenstern von Hose und Jacke zu entfernen. Zur angesetzten Stunde blieb der Appellplatz leer. Das Lager trotzte dem SS-Befehl.
Vergebliche Suche
Am nächsten Morgen mußten alle Häftlinge antreten, die Blockältesten mußten die jüdischen Häftlinge heraussuchen. Sie weigerten sich, ohne schriftliche Unterlagen könnten sie das nicht tun. Alle Listen und Karteikarten waren in der Nacht verschwunden. Die SS schäumte vor Wut und begann mit schwerbewaffneten SS-Gruppen die Jagd auf jüdische Häftlinge. Kurt Baum wehrte sich mit einem Spaten. Ein Kopfschuß traf ihn tödlich. Der schwere Tag brachte am Abend eine noch gefährlichere todbringende Situation. Die SS-Kommandantur übergab der Häftlingsschreibstube eine Liste mit 46 Namen. Die genannten Häftlinge sollten am nächsten Morgen am Tor antreten.
Eine Provokation der SS
Wenige Minuten später hielt die illegale l.eitung der KPD die Liste in der Hand. Auf der Liste standen 32 Deutsche, 3 Österreicher, 4 Tschechen, 5 Holländer und zwei Polen. Von der illegalen Leitung befand sich Ernst Busse, Kapo des Reviers, auf der Liste, von dem ILK außer ihm niemand. Noch in der Nacht trat das ILK unter strengsten konspirativen Schutzmaßnahmen zusammen. Alle Mitglieder stimmten darin überein, daß es sich um eine mörderische Provokation der SS handelt. Ganz offenkundig wollte sie die Kameraden ermorden, damit das ganze Lager einschüchtern, den Widerstandswillen brechen und Zehntausende Patrioten aus allen Ländern Europas Stunden vor der Freiheit massakrieren.
Eine Denunziation
Die SS irrte in der Annahme, auf der Liste stünden die Organisatoren des Widerstandes. Dennoch traf sie Kameraden, die durch ihren mutigen, opferbereiten Kampf großes Vertrauen erworben hatten und in der jetzigen Situation, wo es um Leben und Tod ging, hohe Autorität besaßen. So Robert Siewert, Kapo des Baukommandos, Willi Seifert, Kapo der Arbeitsstatistik, Ernst Busse, Kapo des Reviers, Otto Kipp, sein Stellvertreter, Hans Neumeister, Kapo der Häftlingsschreibstube, Bruno Apitz, Emil Carlebach, Blockältester, und dazu die ausländischen Kameraden. Die Liste ließ auf eine niederträchtige Denunziation eines Spitzels schließen, der zwar die Namen von Häftlingsfunktionären wußte, aber nicht die Namen der Mitglieder der illegalen Leitung der KPD und auch nicht des ILK. Das ILK zog in der nächtlichen Sitzung den Schluß:
Die aufgerufenen 46 Häftlinge sollen zur Abschreckung ermordet werden. Der ehemalige SS-Arzt Ding-Schuler bestätigte später vor dem Gericht, daß ein derartiger Exekutionsbefehl dem SS-Kommandanten zugegangen sei.
Ein unmittelbarer bewaffneter Aufstand, wie er von einigen Kameraden vorgeschlagen wurde, muß abgelehnt werden. Die Dritte USA-Armee scheint ihre Kampfhandlungen unterbrochen zu haben. Die Feuerkraft der Häftlinge reicht nicht aus, um gegen die noch im Lagerbereich schwer bewaffneten SS-Einheiten antreten zu können.
Die 46 werden nicht ausgeliefert. Sie stehen unter dem Schutz des ILK. Sie werden im Lager versteckt. Wer der SS hilft, auch nur einen zu finden, ist ein Verräter und verliert sein Leben.
Wenn die SS versucht, einen der 46 mit Gewalt ans Tor zu schleppen, wird ihr Gewalt entgegengesetzt.
Noch in der Nacht wird dieser Beschluß in allen Wohnblocks mitgeteilt. In der Dunkelheit werden Kameraden alle Häftlinge informieren.
Offener Widerstand
Damit begann der offene Widerstand gegen die Befehle der SS. Es ging nicht mehr darum, die Durchführung der Befehle der SS zu verzögern, sondern ihre Ausführung zu verhindern. Die Nacht vom 5. zum 6. April 1945 kann als Beginn des Aufstandes im faschistischen Konzentrationslager Buchenwald bezeichnet werden. Zum erstenmal durchbrachen wir ein selbst aufgestelltes Tabu. Bis zu dieser Nacht gehörte es zu den strengsten Regeln der Konspiration, nicht die Termini „internationales Lagerkomitee“, „Partei“, „Genosse“, „Komintern“ und andere zu verwenden. In dieser Nacht erklärten wir allen Häftlingen:
Die SS will 46 unserer Besten ermorden. Sie stehen unter dem Schutz des ILK. Wer der SS hilft, ist unser Feind. Alle für einen, einer für alle!
Wahrheit oder ein Gerücht?
Die in vielen Sprachen Europas verkündete Entscheidung des ILK löste eine heftige Diskussion aus. Viele zweifelten an der Existenz des ILK. Andere glaubten nicht an die Mordabsicht der SS. Jeder fieberte dem Morgen entgegen. War das Ganze nur ein Gerücht? Der Morgen des 6. April 1945 ließ keine Illusionen zu. Die SS brüllte durch den Lautsprecher, überschrie sich, verlangte nach dem Kapo der Schreibstube (der war auf der Liste), befahl den Lagerältesten ans Tor. Der wußte nichts von einer Liste, sagte er. Dabei hatte er mit dem Vorsitzenden des ILK in der Nacht alle Varianten einer einzuschlagenden Taktik abgesprochen.
Die USA-Truppen zögerten…
Auch die beruhigende Erklärung der SS-Führung, die 46 sollten als Vorkommando bombensichere Orte aufsuchen, verfing nicht. Die 46 blieben verschwunden. Die SS mußte eine schwere politische und moralische Niederlage hinnehmen. Fünf Tage dauerte der Kampf zur Verhinderung der Evakuierung. Die USA-Truppen rückten erst am 9. 4. vorsichtig in Richtung Erfurt und Weimar vor. Unsere sowjetischen Freunde waren noch zu weit, um uns direkt helfen zu können. Jedoch ihr konzentriertes Vorrücken auf Berlin nahm der SS in Buchenwald jeden Glauben an des Führers Sieg.
Die Selbstbefreiung des KZ Buchenwald
Am 11. April 1945 befreiten sich die Häftlinge von Buchenwald unter Führung des ILK, unter dem Einsatz einer kampfesmutigen, zumeist von Kommunisten geführten Militärorganisation, aus der SS-Hölle. Sie sprengten den Zaun, eroberten die Wachtürme, nahmen SS-Leute gefangen. Wenige Stunden später trat das illegale ILK aus der Konspiration in die Legalität als Führung der 21.000 befreiten Häftlinge. Erst zwei Tage später kam eine USA-Abteilung, um das Lager zu übernehmen. Sie hörten zu, als wir schworen:
Die Ausrottung des Nazismus mit seinen Wurzeln
ist unsere Aufgabe. Der Aufbau einer Welt
des Friedens und der Freiheit unser Ziel.
Walter Bartel
Vorsitzender des illegalen internationalen Lagerkomitees Buchenwald
Quelle:
Walter Barthel: Der SS-Befehl wird nicht ausgeführt. In: DAS MAGAZIN, Berliner Verlag, Heft 5 Mai 1975 (Zwischenüberschriften eingefügt, N.G.)
Anmerkung:
An eine Begegnung mit Walter Barthel kann ich mich noch erinnern. Er war ein kleiner, zurückhaltender, grauhaariger Mann – doch was er sagte, hatte Gewicht. Wir waren noch jung. Nach einer Klassenfahrt in die Gedenkstätte Buchenwald waren wir sehr schweigsam zurückgekommen. Der Bericht von Walter Barthel hatte uns zutiefst erschüttert. Und wir wußten, auch Ernst Thälmann war dort ermordet worden. Hier kann man nun auch lesen, daß die Behauptungen über die angebliche Befreiung des KZ Buchenwald „durch die Anmerikaner“ eine infame Lügen ist. Als der ehemalige Ministerpräsident B.Vogel (CDU) in Buchenwald eine heuchlerische Rede hielt und diese Lüge wiederholte, stand der ehemalige KZ-Häftling Emil Carlebach auf und rief lauf: „Sie lügen, Herr Ministerpräsident!“ Das schien diesen CDU-Politiker aber nicht zu stören, denn er redete unbeeindruckt weiter. Und noch etwas: Walter Barthel war Kommunist, ebenso Emil Carlebach.